Universität Oldenburg Wörterbuch der deutschen Lehnwörter in der polnischen Schrift- und Standardsprache BKGE

9. Der Diskurs

Der Blick auf die meisten der Wörterbuchartikel läßt unmittelbar ihre prinzipielle Gliederung in zwei Teile erkennen. Beim ersten, dessen Informationskategorien in den vorigen Abschnitten erläutert wurden, handelt es sich um Angaben mit analytischem Charakter in einer stark formalisierter Struktur, die durch eine Reihe von graphischen Hervorhebungen und Normierungen getragen wird. Dieser Teil eines Artikels dient vornehmlich der historischen Dokumentation. Er ermöglicht einen schnellen Überblick über ein Lehnwort hinsichtlich der verschiedenen Informationskategorien wie auch den gezielten Zugriff auf einzelne von ihnen. So könnte es einen Benutzer u.U. nur interessieren, in welchen Formen, d.h. in welchen phonetisch-phonologischen oder morphologischen Varianten ein Lehnwort aufritt, wie es zu datieren ist oder welche Bedeutungen es hat.

Im “Diskurs” hingegen, dessen Beginn mit “❖” gekennzeichnet ist, wird für die im formalisierten, analytischen Teil angebotenen Fakten eine historisch-philologische kommentierende Erklärung gegeben. Es handelt sich also um einen synthetischen Kommentar. Allerdings bedürfen nicht alle Artikel eines solchen Kommentars, eines “Diskurses”.

Dieser Abriß der Geschichte eines deutschen Lehnwortes im polnischen Wortschatz hat zunächst auf eine Reihe konstanter, d.h. prinzipiell für jedes Lehnwort relevanter Fragen einzugehen.

An erster Stelle steht dabei das Problem von Zeitpunkt und Ort der Übernahme. Die verschiedenen Datierungen, die zu den Belegen für Inhalte und Varianten sowie gegebenenfalls für Derivate angegeben werden, bedürfen einer “ganzheitlichen” Kommentierung. Zur Klärung der Frage, welche Rolle eine eventuelle Vermittlung des Tschechischen gespielt haben mag, und in welcher Region des polnischen Sprachgebiets der Übergang bzw. die Aufnahme eines Lehnwortes sich vollzogen hat, können im Diskurs weitere sprachgeographische Informationen ausgewertet werden, wie z.B. aus den Karten des Magp. Im Einzelnen ist hier vielfach eine explizite Abgrenzung gegenüber den Konkurrenten nötig. Aber auch abgesehen von sprachgeographischen Gegebenheiten ist die Beziehung des Lehnwortes zu seinen Konkurrenten zu diskutieren hinsichtlich der schon angesprochenen Verdrängungserscheinungen. In manchen Fällen bedarf auch der soziale Ort der Übernahme einer Diskussion, d.h. soziale Strati, Fachsprachen oder allgemeine Sprache, stilistische Elemente etc.

Weiterhin ist ein Vergleich von Inhalts- und Ausdrucksseite des deutschen Lehnwortes im Polnischen mit seiner deutschen Vorlage und gegebenenfalls mit der tschechischen Entsprechung anzustellen. Auch die potentielle Vermittlerrolle des Russischen ist gelegentlich zu diskutieren. Im inhaltlichen Bereich ist hier im Falle von Polysemie besonders die semantische Differenzierung zu erörtern unter Berücksichtigung möglicher semantischer Eigenentwicklung, erneuter Entlehnung oder kontinuierlicher analoger Entwicklung des Lehnwortes und der deutschen Vorlage. Bezüglich der Ausdrucksseite sind zunächst Idiosynkrasien des Überganges in der phonetisch-phonologischen oder morphologischen Struktur eines Lehnwortes zu erörtern, wie z.B. polnisch konwiszarz aus deutsch Kann(en)gießer. Gegebenenfalls sind weiterhin die verschiedenen Ausdrucksvarianten zu diskutieren unter Berücksichtigung der Faktoren von Zeit und Wortgeographie. Auch kann es u.U. notwendig sein, auf graphische Varianten einzugehen, übrigens auch hinsichtlich des bereits angesprochenen Problems des sozialen Ortes der Übernahme. So gibt es z.B. “vornehme” Schreibweisen, die ein Hinweis auf Zugehörigkeit zum gehobenen Wortschatz sein können.

Ein letzter wesentlicher Punkt ist die Stellung eines Lehnwortes innerhalb des polnischen Wortschatzes. Dieses Wörterbuch hat sich die polnische Literatur- und Schriftsprache als Untersuchungsbereich gewählt, insofern ist in vielen Fällen die Zugehörigkeit eines Lehnwortes zu dieser Schicht in Abgrenzung zu regionalen oder sozialen Varianten des Polnischen (Mundarten) und zu seinen Fachwortschätzen zu ermitteln. Dabei soll besonders die Zugehörigkeit eines Lehnwortes zum Wortschatz der polnischen Literatursprache kommentiert werden: der Zeitpunkt des ersten Auftretens in dieser, das eventuelle Ausscheiden aus der Hochsprache (ggf. das Überleben in Mundarten), die Weiterführung in den Wörterbüchern nach dem Ausscheiden aus den Texten, der stilistische Stellenwert wie “archaisch”, “gehoben”, “umgangssprachlich”, “vulgär” u.dgl. mehr.

Neben der Erörterung von derartigen Standardfragen sind im Diskurs gegebenenfalls die spezifischen, idiosynkratischen Eigenschaften eines Lemmas zu diskutieren.

Zusammenfassend beziehen sich die kommentierenden Diskurse also auf Fragen wie:

  • zeitlicher und wortgeographischer Aspekt des Überganges, gegebenenfalls in Abgrenzung zu deutschen Lehnwörtern im Tschechischen oder im Russischen
  • inhaltliche Implikation des Überganges deutscher Lehnwörter ins Polnische und ihre weitere semantische Entwicklung; gegebenenfalls Neuentlehnungen
  • Konkurrenzverhältnisse zu anderen Elementen des polnischen Wortschatzes; Verdrängungsmechanismen und “Lehnworttod”
  • diastratische und dialektale Stellung des Lehnwortes im polnischen Wortschatz

Im Diskurs sind ebenso im Falle der Notwendigkeit die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung den Ansichten und Lehrmeinungen der bisherigen Forschung gegenüberzustellen.

Stand: 09.09.2010