Ziel der vorliegenden Arbeit ist es das Spektrum musikalisch ausgedrückter Formen der Klage in George Enescus Oper Œdipe zu untersuchen. Zu diesem Zweck wurden alle gesungenen Melodien aus dem dritten Akt der Oper transkribiert und auf den darin enthaltenen Klage-Gestus analysiert (Band II der Arbeit). Die bei der Analyse angewandten Kriterien wurden aus der Untersuchung aller für das Phänomen Klage relevanten Parameter gewonnen (Band I der Arbeit). Diese reichen von anthropologischen Grundaspekten des Phänomens und gestischen Konnotationen, über religiöse und tragödienspezifische Aspekte, bis hin zu der konkreten Frage wo und wann Formen der Klage in der Musikgeschichte erscheinen und auf welche Weise sie sich dort manifestieren. Die Analyse der gesungenen Melodien aus dem dritten Akt belegt, dass der Klage-Gestus in Enes-cus Oper Œdipe allgegenwärtig ist. Er manifestiert sich nicht nur in vielfältigsten Formen auf melodischer Ebene, sondern hat auch weitereichende Auswirkungen auf nahezu alle andern musikalischen Parameter. Der Klage-Gestus ist in Œdipe das maßgebliche gestalterische Element, das der gesamten Komposition zu Grunde liegt und als „Spektrum der Klage“ aufgefasst werden kann. Die Analyse eines bisher unveröffentlichten Dokuments mit Skizzen Enescus zu den Leitmotiven der Oper hat darüber hinaus gezeigt, dass die Omnipräsenz des Klage-Gestus konzeptionell bereits in der Beschaffenheit der Leitmotive angelegt ist. Die Leitmotive liegen in unzähligen, flexiblen Erscheinungsformen vor, die jedoch alle über das gemeinsame Element des fallenden Sekundschritts als Ur-Motive der Klage in Beziehung zueinander stehen. Der Klage-Gestus „durchdringt“ somit die gesamte musikalische Faktur des Werks wobei jede Gesangs- und Orchesterstimme zu jedem Zeitpunkt der Komposition auf ein Leitmotiv zurückgeführt werden kann. Dadurch entsteht ein hoch-komplexes musikalisches und semantisches Beziehungsgeflecht, in dem sich die tragische Dimension des Stoffes widerspiegelt. Das Libretto der Oper, welches Edmond Fleg gemeinsam mit dem Komponisten angefertigt hat, enthält umfangreiche Änderungen der antiken Vorlage. Diese Änderungen der antiken Vorlage ergeben in Verbindung mit Enescus Vertonung eine Interpretation des Stoffes, die über herkömmliche Ödipus-Interpretation hinausgeht und durch die ein starker Bezug zu Enescus eigener Lebenszeit, aber auch zu unserer heutigen Zeit entsteht.
Romanian composer and violinist George Enescu (1881-1951) lived in a time of great political, social, and cultural transition. Aged 6, young Enescu left his home country Romania for Vienna, and later Paris. He very successfully studied violin and composition and his works drew great attention while he was still a teenager. In Enescus music very different musical sources became assimilated into a unique musical language: Viennese and German musical tradition (including a great admiration for Wagner operas), mingled with French impressionism and – most importantly – with the influence of the inexhaustible heritage of Romanian traditional music. One of the main characteristic elements of traditional music from Romania is the presence of a melancholy trait. In Enescus works musical gestures of lament are omnipresent. Especially Enescus large scale opera Œdipe (1936) can be interpreted in terms of different forms of musically expressed lament. Oedipus, Jocaste, Laios – for each of them Enescu finds a way of expressing their own form of grief, altogether guided by the irreversible, and omnipresent strength of destiny, which is represented through a form of musical lament as well. In the first part of the thesis all important aspects the phenomenon of lament in music are thor-oughly described. Aspects included are anthropological, religious, and linguistic as well as aspects concerning the occurrence of lament in ancient Greek tragedy. After the examination of laments in traditional music from different regions, the characteristic elements of lament in music are being defined and applied to different musical genres. Through a detailed analysis of the melodies sung in the 3rd act of the opera Œdipe by George Enescu, the second part of this study demonstrates how Enescu uses musical elements of lament and grief on every musical level of his opera, so that they become the medium through which his interpretation of Sophocles‘ tragedy becomes evident. Enescus interpretation of the ancient trag-edy in turn reveals a valuable insight on the composer’s deepest beliefs and his unalterable trust in freedom.