Die Arbeit untersucht die sozialen Grenzziehungen am menschlichen Lebensanfang anhand des empirischen Feldes der Frühgeborenenintensivmedizin in Deutschland und der Schweiz. Es wurden qualitative Expert*innen- und Betroffeneninterviews geführt und ausgewertet. Dies erfolgte den sozialtheoretischen Annahmen der Theorie der mehrdimensionalen Ordnung des Sozialen folgend mittels entsprechend angepasster Grounded Theory. Das zentrale Ergebnis lautet: die Geburt markiert für extrem unreife Frühgeborene den Übergang in den Status einer sozialen Person mit vollem rechtlichen und moralischen Status. Die vom Kind ausgehenden Lebenszeichen werden dabei in Deutschland im Hinblick auf einen individuellen Lebenswillen gedeutet im Sinne einer Anerkennung von Differenz. In der Schweiz wird hingegen stärker das kindliche Wohl betrachtet, dies vor allem auch im Zusammenhang mit dem (gesamt)familialen Wohl im Sinne einer Anerkennung von Bedürftigkeit. Die Anerkennung erweist sich als irreversibel.
The study focuses on the social boundaries at the beginning of human life in the empirical field of intensive care for premature infants in Germany and Switzerland. Qualitative interviews with experts and those affected were conducted and analysed. This was done following the assumptions of the Theory of Multiple Dimensions of the Social using Grounded Theory which was adapted accordingly. The key result is: for extremely premature infants, birth marks the transition to the status of a social person with full legal and moral status. In Germany, the signs of life (vital signs) emanating from the child are interpreted in terms of an individual will to live, in the sense of a recognition of difference. In Switzerland, on the other hand, the child's well-being is considered more strongly, especially in connection with the (overall) family well-being in the sense of a recognition of neediness. The recognition proves to be irreversible.
Soziologie; Soziale Ungleichheit; Gewalt; Ungleichheit; Sorge; sociology; violence; worry; inequality; moderne Gesellschaft; modern society; social inequality; Politische Krise; Kulturkrise; Pandemie; COVID-19; Krise; Sozialordnung; Strukturelle Gewalt; Politik; Staat
Klappentext: Was können wir aus der Coronakrise über moderne Gesellschaften lernen? Gesa Lindemann zeigt auf, dass die Strukturen der modernen Gesellschaften stabil bleiben, sich unsere alltägliche Berührungsordnung dagegen verändert bzw. verändern kann. Die Leserinnen und Leser erfahren etwas darüber, in welchem Verhältnis Staat, Politik, Recht, Wirtschaft und Wissenschaft zueinanderstehen und wie diese Bereiche mit ihren eigenen Voraussetzungen und Zielen unser unmittelbares Zusammenleben bestimmen. Die mediale Fokussierung auf sinnliche Aspekte der alltäglichen Berührungsordnung macht den Zusammenhang mit diesen allgemeinen gesellschaftlichen Strukturen sichtbar. In Zeiten von Corona zeigt sich auch, wie die moderne Gesellschaft immer wieder emanzipatorische Hoffnungen nährt, dass z.B. auch tiefverwurzelte rassistische Strukturen verändert werden können. Die Krise scheint das Ethos der Menschenrechte nicht zu beschädigen. Die Ordnung der Gewalt wird thematisiert über Fragen nach sozialer Ungleichheit und Formen struktureller Gewalt, und gerät in der Diskussion über das Machtmonopol des Staates auch ins Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit. Davon zeugt nicht zuletzt die Black-Lives-Matter-Bewegung. Diese Fragen werden im Buch u.a. diskutiert: Wie ist das Machtmonopol des Staates definiert? Ändert sich die Ordnung der Gewalt? Wie verändert sich das Ethos der Menschenrechte bzw. welche Bedeutung haben Grundrechte? Wie verändert sich unsere Ordnung der Berührung – die Art wie wir uns ansehen, miteinander agieren, uns körperlich berühren? Welche Rolle spielt die Digitalisierung? Wie wird soziale Ungleichheit in der Krise sichtbar? (Stichwort Herdenimmunität) Welche unterschiedlichen Sorgelogiken machen die Arbeit von Staat, Politik, Recht, Wirtschaft, Bildung, Wissenschaft und Medizin aus? Welche Rolle kommt der öffentlichen Berichterstattung zu? Und welche Chancen ergeben sich aus der Fokussierung ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Bereiche? Wann kann man von struktureller Gewalt sprechen? Und wie wird diese in der Krise sichtbar? (Stichwort Black-Lives-Matter)